90 Prozent aller Frauen verspüren im ersten Schwangerschaftsdrittel gelegentliche Übelkeit. Für gewöhnlich relativiert sich dieser Schutzmechanismus bis zur 14. Woche und Du kannst die nachfolgenden Monate in vollen Zügen genießen. Was aber, wenn der morgendliche Brechreiz bestehen bleibt, stärker wird oder gar die ganze Schwangerschaft bestimmt? Dann könnte ein seltenes, aber gut bekanntes Leiden dahinter stecken: Hyperemesis gravidarum, das unstillbare Schwangerschaftserbrechen.
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Schwangerschaftsübelkeit in zwei Extremen
Übelkeit und Schwangerschaft – das sind zwei Dinge, die sich zu einem Mythos verdichtet haben. Sie scheinen wie selbstverständlich zusammenzugehören und bilden ein häufiges Gesprächsthema unter werdenden Müttern.
Wenig bis gar nicht
Dabei ist längst nicht jede Schwangere betroffen. Manche verspüren in 9 Monaten nicht ein einziges Mal Übelkeit; bei anderen beschränkt es sich auf leichtes Unwohlsein. Diese Frauen wirken auf ihr Umfeld oft unglaubwürdig; als würden sie etwas behaupten, das eigentlich nicht sein kann. Manchmal bekommen sie das sogar gesagt – und erhalten dadurch das Gefühl, ihre Schwangerschaft verlaufe anormal.
Doch das stimmt nicht! Schwangerschaftsübelkeit ist ein häufiges, aber kein zwangsläufiges Phänomen. Zahlreiche Frauen fühlen sich so wohl wie immer und bemerken von den hormonellen Veränderungen in ihrem Körper – der Hauptursache morgendlicher Übelkeit – nichts. Sie müssen sich dafür weder rechtfertigen noch in Zweifel verfallen.
Jede Schwangerschaft verläuft individuell und ruft bei jeder Frau andere Empfindungen bzw. Begleiterscheinungen hervor.
Mehrmals täglich, rund um die Uhr
Das gilt auch für den Fall des extremen Gegenteils, der sogenannten Hyperemesis gravidarum. Hierbei verspüren Betroffene überdurchschnittlich oft starken Brechreiz. Sie übergeben sich mehrmals täglich – unabhängig davon, ob sie zuvor Nahrung oder Getränke aufgenommen haben. Der Zustand hält deutlich länger an als „normale“ Schwangerschaftsübelkeit und zieht sich weit über erste Trimester hinaus.
Paradoxerweise ruft diese anhaltende und ständige Übelkeit bei vielen Außenstehenden die gleichen Reaktionen hervor wie fehlende Beschwerden: Sie schenken den Schilderungen betroffener Frauen keinen Glauben und beschuldigen sie, zu übertreiben oder sich gehen zu lassen.
Verantwortungsvoller Umgang mit Schwangerschaftserbrechen
Dabei hat Hyperemesis gravidarum nicht nur einen Namen – sondern auch eine lange Geschichte, ein typisches Krankheitsbild und eine Reihe ernstzunehmender Folgen.
Wer Berichte von häufiger, anhaltender und heftiger Übelkeit in der Schwangerschaft nicht ernst nimmt, macht sich im Zweifelsfall mitschuldig an eventuell auftretenden Spätschäden.
Auch Du selbst bist in der Verantwortung: Verspürst Du als Schwangere auffallend heftigen Brechreiz oder hast Du das Gefühl, die Symptome der „typischen“ Schwangerschaftsübelkeit ziehen sich überdurchschnittlich lange hin, solltest Du Dich ärztlich untersuchen lassen.
Gynäkolog/-innen und deren Mitarbeiter/-innen sowie Hebammen und Entbindungspfleger sind mit den Begleiterscheinungen von Hyperemesis gravidarum vertraut und wissen, welche Maßnahmen bei auffallend heftiger und lang anhaltender Übelkeit angezeigt sind.
Möglicher Gründe für Übelkeit in der Schwangerschaft
Welche Ursache das Leiden hat, können sie Dir allerdings nicht sagen – denn darüber herrscht noch immer keine Gewissheit. Fest steht nur, dass Hyperemesis gravidarum keine der sogenannten Zivilisationskrankheiten ist. Aus den Aufzeichnungen des altgriechischen Arztes Soranos von Ephesos geht hervor, dass heftige Schwangerschaftsübelkeit schon in antiken Zeiten bekannt war. Moderne Lebensumstände wie
- erhöhter Weißzucker-Konsum
- Licht- und Luftverschmutzung
- Genussmittel-Missbrauch
bzw. die daraus resultierende Neigung zu
- funktionellen Erkrankungen
- Schlafstörungen
- Alkoholismus und Nikotinsucht
spielen für den Ausbruch der Erkrankung offenbar keine Rolle.
Sehr viel wahrscheinlicher sind Hormone der Auslöser für Hyperemesis gravidarum. Das würde erklären, warum das heftige Unwohlsein im Zuge von Mehrlingsschwangerschaften häufiger auftritt als bei Frauen, die einen einzelnes Baby austragen.
Der hCG-Spiegel im mütterlichen Körper steigt durch zwei oder mehr Embryonen schneller an und erreicht höhere Maximalwerte als bei Schwangerschaften mit nur einem Kind.
Die Ärzte sind sich jedoch noch nicht ganz einig, ob die Hormone selbst Übelkeit verursachen oder ob sie als Katalysator fungieren. Da nicht alle Frauen Beschwerden haben und nur wenige die Extremform Hyperemesis gravidarum ausbilden, müssen verschiedene Aspekte ineinandergreifen.
Mögliche Verstärker sind
- andere Hormone und/oder Enzyme
- Immunschwäche
- Verdauungsstörungen
- Mangel- oder Fehlernährung
- psychische Einflüsse
Auch eine erbliche Neigung zu ständiger Übelkeit während der Schwangerschaft schließen Forscher nicht aus.
So kann anhaltende Übelkeit die Schwangerschaft gefährden
Wie wichtig rechtzeitiges Handeln ist, belegen die dramatischen Folgen des ständigen Erbrechens: Durch den Flüssigkeitsverlust kommt es zu
- trockenen Schleimhäuten, die das Eindringen von Krankheitserregern begünstigen
- Störungen des Elektrolyt-Haushalts, die den Stoffwechsel und die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen
- Kreislaufschwäche mit niedrigem Blutdruck bei gleichzeitig erhöhtem Puls, die Benommenheit, Desorientierung und Ohnmachtsanfälle auslösen kann
- Reduzierung des Körpergewichts um mehr als fünf Prozent
- kristallinem Harn, der Grieß und Steine im Ausscheidungs-Apparat fördert
All das gefährdet nicht nur Dein eigenes Wohlbefinden, sondern auch die Entwicklung des ungeborenen Kindes. Unter dem Einfluss von Hyperemesis gravidarum wird es nicht mehr ausreichend versorgt und erleidet bald schwere Mangelerscheinungen.
Darüber hinaus gelangen die giftigen Abbauprodukte Deines geschwächten Organismus‘ über die Plazenta in Babys Blutkreislauf, wo sie weitere Schäden anrichten.
Ständige Übelkeit in der Schwangerschaft wirkungsvoll bekämpfen
Die Behandlung der extremen Schwangerschaftsübelkeit ist äußerst vielfältig. Hier findest Du einige Möglichkeiten:
Ernährungsumstellung und Verzicht
Hat sich die Gefahr für Dich und Dein Baby noch nicht allzu stark verdichtet, checken die Ärzte zunächst Deinen Speiseplan und versuchen, mögliche Störfaktoren zu identifizieren. Das ist vor allem dann angezeigt, wenn die Übelkeit nach dem Essen auftritt.
Gelegentlich ist Hyperemesis gravidarum nämlich nichts weiter als ein natürlicher Schutzmechanismus, der das Kleine vor schädigenden Einflüssen bewahrt. Indem Dein Körper auf bestimmte Nahrungsmittel mit promptem „Auswurf“ reagiert, verhindert er die Übertragung von Giftstoffen.
Auf diese Weise entwickeln viele Schwangere eine Abscheu vor Nikotin, Alkohol oder Kaffee. Doch auch scheinbar gesunde Sachen können starke Übelkeit bewirken. Macht sie sich nach dem Essen von Eiern, Fisch oder Milchprodukten bemerkbar, könnte das Alarmsystem Deines Organismus angesprungen sein.
In besonderen Situationen wie einer Schwangerschaft sendet es schon beim leisesten Verdacht Signale, um selbst theoretische Gefahren abzuwenden.
Aufbaukur und stationäre Behandlung
Doch nicht immer ist die Therapie der Hyperemesis gravidarum so einfach. Sind der Flüssigkeitsverlust und die dadurch drohende Gefahr bereits sehr hoch, müssen Ärzte mit hochdosierter Kost gegensteuern.
Da sich die Übelkeit durch Essen jedoch meist verstärkt, greifen sie zu einem bewährten Trick: Sie verabreichen Dir Lebensmittel, wie sie bei stark ausgezehrten Menschen und/oder nach einer Strahlen-Behandlung zum Einsatz kommen: Eine Art Astronauten-Nahrung, die auf kleiner Menge ein Maximum an Kalorien, Vitaminen und Nährstoffen versammelt.
Zusätzlich oder alternativ kannst Du aufgrund einer bestehenden Hyperemesis gravidarum stationär aufgenommen werden. Dadurch haben Ärzte die Möglichkeit, Dich und Dein Baby zu beobachten und notfalls intravenös zu ernähren.
Gegebenenfalls kommen auch Medikamente zum Einsatz, die den Verdauungstrakt beruhigen und die Übelkeit unterdrücken bzw. Krankheiten bekämpfen, auf welche die ständige Übelkeit zurückzuführen ist.
Auf seelische Gesundheit achten
Das alles hilft jedoch nicht, wenn die Hyperemesis gravidarum psychische Ursachen hat – wobei es mitunter zu fatalen Wechselwirkungen kommt: Fühlt sich eine Frau durch eine ungeplante Schwangerschaft belastet, kann das zu verstärkter Übelkeit führen, die ihrerseits eine Bindung an das Baby hemmt.
Eine andere Variante der gegenseitigen Beeinflussung ist, dass sich eine gewollt Schwangere durch ständige Übelkeit von ihrem Wunschkind distanziert.
Daher erfordert eine Hyperemesis gravidarum immer auch psychotherapeutische Unterstützung. Wie intensiv diese gestaltet sein muss, hängt von der persönlichen Situation der Schwangeren ab. Wirtschaftliche oder partnerschaftliche Spannungen können durchaus ein Grund für ständige Übelkeit in der Schwangerschaft sein.
Solltest Du Dich in einer unklaren oder sonst wie belastenden Situation befinden, lohnt es sich, das abzuklären. Denn seelische Tiefs der Mutter können das Wohlbefinden und Gedeihen des Babys ebenso gefährden wie die Hyperemesis gravidarum selbst.
2 Gedanken zu „Hyperemesis gravidarum – Wenn Übelkeit kein Ende nimmt“